Am 15.12.2011 fand im Haus der Technik, Essen, eine Tagung zum Thema „Ghettoarbeit und Rentenanspruch“ statt. Die Präsidentin des Landessozialgerichts Dr. Ricarda Brandts hatte zu dieser hochkarätig besetzten Fachtagung über ein sozialpolitisch besonders bedeutsames Thema eingeladen. Gegenstand war die Anwendung des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG). Bei den Streitverfahren nach diesem Gesetz geht es um die Frage, ob Arbeiten, die Überlebende des Holocaust in den Ghettos in Osteuropa während der NS-Herrschaft verrichtet haben, zur Zahlung einer Rente aus der deutschen Rentenversicherung führen. Anwesend waren fast 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus allen Teilen der Bundesrepublik: Gäste aus der Politik, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Ministerien und der Rentenversicherung, Angehörige verschiedener jüdischer Organisationen und der Deutsch-Israelischen Juristengesellschaft, Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte sowie zahlreiche Richterinnen und Richter der Sozialgerichtsbarkeit in Bund und Land.

Die Präsidentin des Landessozialgerichts wies in ihrer Begrüßungsansprache auf die besondere Verantwortung von deutschen Richterinnen und Richtern gegenüber den Überlebenden des Holocaust hin. Sie betonte, dass die Richterschaft der Sozialgerichtsbarkeit in Nordrhein-Westfalen sich dieser Verantwortung stets bewusst war und ist. Die Konfrontation mit dem Schicksal der Überlebenden der Shoah habe sie vor sehr schwierige Entscheidungen gestellt. Die Richterinnen und Richter hätten bei jeder einzelnen Entscheidung mit sich und vor allem dem Gesetz gerungen. Die Präsidentin betonte, dass es zu den Aufgaben einer öffentlichen Institution auch gehört, kritische Diskussionen und mediale Beobachtung auszuhalten und – bei berechtigter Kritik – hieraus zu lernen. Sie wies aber die gerade in den letzten Monaten teilweise sehr heftigen Angriffe auf die Arbeit des Landessozialgerichts als auf falschen Tatsachen oder Halbwahrheiten beruhende Darstellungen zurück.

Herr Justizminister Kutschaty leitete sein Grußwort damit ein, es  gelte zunächst, sich vor den Opfern der Verfolgung zu verneigen. Für die Sozialgerichtsbarkeit sei es keine leichte Aufgabe gewesen, sich dem Thema der Shoah auf juristische Art und Weise zu nähern. Nicht nur Anzahl und Umfang der Verfahren seien einzigartig gewesen, sondern auch die Problematik, vor die der Gesetzgeber die Justiz gestellt habe: Die Gerichte als Reparaturwerkstatt der Gesetzgebung. Herr Präsident des Bundessozialgerichts Masuch betonte die aktuelle Bedeutung des Tagungsthemas. Die Tagung sei mit vollem Recht nicht allein juristisch-fachlich ausgerichtet, sondern beziehe die zeitgeschichtliche Dimension mit ein.

Der Vorsitzende Richter am Bundessozialgericht Prof. Dr. Steinwedel referierte über die Anwendung des Gesetzes durch das Bundessozialgericht. Er zeichnete die Entwicklung der Rechtsprechung nach, die schließlich im Juni 2009 zu einer erweiterten Auslegung des ZRBG geführt hat und die allgemein begrüßte hohe Zahl von Rentenbewilligungen ermöglichte. Der Historiker Prof. Dr. Constantin Goschler, Lehrstuhl für Zeitgeschichte der Ruhruniversität Bochum, hielt einen Vortrag zum Thema „Schuld und Schulden – Wiedergutmachung für NS-Verfolgte zwischen Lebenswelt und Recht“. Er machte deutlich, dass es – auch aus Sicht der Betroffenen – kaum möglich ist, den Ausnahmezustand während der NS-Verfolgung mit den hergebrachten sozialversicherungsrechtlichen Systemen zu erfassen.

Nach Einschätzung der Präsidentin des Landessozialgerichts hat die Tagung – einschließlich der auf die Referate folgenden Diskussionen im Plenum und beim anschließenden „Come together“ - einen erheblichen Beitrag dazu geleistet, offene Fragen bei der Bearbeitung der Ghettostreitverfahren zu klären und eine von gegenseitigem Respekt und gegenseitiger Achtung geprägte Diskussion über diese schwierige Thematik zu führen.