29.01.2011

Essen. In den letzten Tagen sind in Presse und Rundfunk kritische Beiträge zu dem Umgang des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen mit Ghetto-Rentenstreitverfahren erschienen (vgl. dazu "Der bittere Geschmack des Sieges" – dradio – kultur vom 21.01.2011; "Hinhaltetaktik bei Ghetto-Rentnern", taz vom 24.01.2011). Dies gibt mir Anlass, auf den Hintergrund und den Sachverhalt im Einzelnen einzugehen.

Hintergrund

Bei den Streitverfahren über die Gewährung von „Ghetto-Renten“ geht es um die Frage, ob Arbeiten, die Überlebende des Holocaust in den Ghettos in Ost-Europa während der Nazi-Herrschaft verrichtet haben, zur Zahlung einer Rente aus der Deutschen Rentenversicherung führen. Das für die Bewilligung der Renten maßgebliche Gesetz (ZRBG - Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto vom 20.02.2002) verlangt für eine Berücksichtigung von Arbeit bei der Rentenberechnung, dass diese gegen "Entgelt" verrichtet und "aus eigenem Willensentschluss" aufgenommen wurde. Die Rentenversicherungsträger legten diese Kriterien eng aus und lehnten mehr als 90% der Anträge ab: Angesichts des Zwangscharakters aller Tätigkeiten in Ghettos handele es sich in aller Regel um Zwangsarbeit, nicht

aber um entgeltliche und freiwillige Tätigkeiten. Dies führte zu einer Klagewelle beim Sozialgericht Düsseldorf und beim Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen. Erst im Juni 2009 fällte das Bundessozialgericht eine Grundsatzentscheidung, wonach „freiwillige“ Arbeit (und nicht Zwangsarbeit) vorliegt, wenn die Menschen zu ihrer Arbeit nicht mit vorgehaltener Waffe gezwungen wurden, und eine entgeltliche Arbeit vorliegt, wenn im Austausch dafür irgendeine Entlohnung erzielt worden ist, sei es Bargeld, Lebensmittelcoupons oder auch nur Suppe und Brot.

Die Arbeit des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen

Dieser Grundsatzentscheidung des Bundessozialgerichts gingen umfangreiche Vorarbeiten des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen voraus. Die Realisierung der gesetzlich begründeten Ansprüche der Ghetto-Überlebenden wurde und wird sowohl von den Richterinnen und Richtern des Landessozialgerichts und des Sozialgerichts Düsseldorf als auch von den Gerichtsleitungen als besonders wichtige und vordringliche Aufgaben angesehen. Die Ghettorentenverfahren haben alle Rentensenate des Landessozialgerichts beschäftigt und einen hohen Teil der Richterarbeitskraft gebunden. Vielfach haben die zuständigen Senate historische Ermittlungen durchgeführt. Von verschiedenen Richterinnen und Richtern wurden zahlreiche historische Gutachten zu den höchst unterschiedlichen Gegebenheiten in den Ghettos eingeholt. Richter meines Hauses und eine Richterin des Sozialgerichts Düsseldorf sind – mit umfassender logistischer Unterstützung der Gerichtsverwaltung - mehrfach nach Israel gefahren und haben dort Überlebende persönlich angehört. Sehr häufig wurden Zeitzeugen vernommen, entweder auf Ersuchen der Richterinnen und Richter persönlich durch israelische Gerichte oder schriftlich durch den zuständigen Senat. Zahllose Akten aus früheren deutschen Entschädigungsverfahren oder solchen der Jewish Claims Conference wurden ausgewertet, Zeitzeugeninterviews von Yad Vashem oder der Steven Spielberg Foundation beigezogen, übersetzt und analysiert.

Wenn in den genannten Medienberichten Herr Richter am Landessozialgericht Dr. von Renesse positiv hervorgehoben wird, so ist richtig, dass er als erster den Weg beschritten hat, Überlebende in Israel persönlich anzuhören. Damit hat Herr Dr. von Renesse den hochbetagten Holocaustüberlebenden die Möglichkeit gegeben, zu Hause in ihrer eigenen Sprache vor Gericht auszusagen. Dieser Ermittlungsweg wurde jederzeit in vollem Umfang von den übrigen Senatsmitgliedern und der Gerichtsverwaltung des Landessozialgerichts unterstützt. Mir ist bekannt, dass viele Überlebende den durch die persönliche Anhörung dokumentierten Respekt sehr zu schätzen wissen. Dieser wichtige Aspekt ist als Beitrag zur Bewältigung der mit den Ghettostreitverfahren einhergehenden Herausforderungen für die Rechtsprechung speziell zu würdigen. Gleichzeitig möchte ich darauf hinweisen, dass die Arbeit der anderen Rentensenate meines Hauses mit den weiteren Ermittlungsansätzen zur Aufklärung der Verfolgungsschicksale erheblich beigetragen hat. Ich betrachte die nunmehr in die Wege geleitete erleichterte Anerkennung der Rentenansprüche der Ghettoüberlebenden als ein uneingeschränkt positiv zu bewertendes Ergebnis auch der langjährigen und aufwändigen Aktivitäten meines Hauses.

"Zusammenwirken von Exekutive und Judikative"

Die Sorge, wegen eines Zusammenwirkens von Exekutive und Judikative seien die Gewaltenteilung sowie die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichts in Frage gestellt worden, ist unbegründet. Eine Besprechung von Vertretern der Gerichtsverwaltung des Landessozialgerichts und des Sozialgerichts Düsseldorf mit Vertretern der Deutschen Rentenversicherung betraf lediglich die Frage des effizienten Verfahrens bei der Umsetzung der Grundsatzentscheidung des Bundessozialgerichts. Sie diente ausschließlich dazu, den oft hoch betagten Klägerinnen und Klägern möglichst schnell zu ihrem Recht - hier zu einem Anerkenntnis ihrer Ansprüche durch die Deutsche Rentenversicherung Rheinland - zu verhelfen. Da fast alle Richterinnen und Richter die im Interesse der Klägerinnen und Kläger liegende Verfahrensweise mitgetragen haben, wurden die anhängigen Klage- und Berufungsverfahren bis auf einen geringen Rest innerhalb kurzer Zeit – regelmäßig zu Gunsten der Klägerinnen und Kläger – einvernehmlich beendet. So waren von den 1022 Berufungen zum Jahresbeginn 2009 nur noch 91 Verfahren am 31.12.2009 beim Landessozialgericht anhängig. Eine vergleichbar positive Entwicklung ist beim Sozialgericht Düsseldorf eingetreten.

Aufhebung von Beschlüssen

Zutreffend ist, dass Beschlüsse, mit denen ein Richter am Landessozialgericht die Kosten der von ihm durchgeführten Ermittlungen der Deutschen Rentenversicherung Rheinland in Rechnung stellte, nach dem Ausscheiden dieses Richters aus dem Senat von dem zuständigen Senat (in der Besetzung mit drei Berufsrichtern) aufgehoben wurden. Diese Entscheidungen bewegen sich im Rahmen der richterlichen Unabhängigkeit. Ich erlaube mir dennoch den Hinweis, dass die Beschlüsse ausführlich begründet sind und das Bundesverfassungsgericht die von einer Rechtsanwältin aufgrund diverser angeblicher Verfassungsverstöße erhobenen Verfassungsbeschwerden nicht einmal zur Entscheidung angenommen hat.

"Versetzung" in einen anderen Senat

Die Veränderung des Aufgabengebietes von Herrn Dr. von Renesse ist in keiner Weise auf sein fachliches Wirken in den Ghettorentenverfahren zurückzuführen. Herr Dr. von Renesse gehört seit März 2010 nicht mehr einem Rentensenat, sondern mit seinem ausdrücklichen Einverständnis dem 13. Senat meines Hauses an (Präsidiumsbeschluss vom 25.02.2010). Auch dieser Senat behandelt Verfahren mit für die Betroffenen häufig existenziell wichtigen Angelegenheiten, die sozialpolitisch von großer Bedeutung sind. Der 13. Senat ist u.a. zuständig für Streitsachen des sozialen Entschädigungsrechts - etwa die Entschädigung von Opfern von Gewalttaten und von Opfern des DDR-Unrechtsregimes. Außerdem urteilt er über Ansprüche und Schutzrechte behinderter Menschen sowie Angelegenheiten nach dem Bundeselterngeldgesetz.

Erklärungen gegenüber der Presse

Für alle Angehörigen der Justiz in Nordrhein-Westfalen gilt die Richtlinie des Justizministeriums, nach der Auskünfte an die Medien nur von den Behörden- bzw. Gerichtsleitungen oder den Pressedezernentinnen und Pressedezernenten erteilt werden. Es ist Herrn Dr. von Renesse selbstverständlich gestattet, in Vorträgen, wissenschaftlichen Beiträgen und ähnlichen

Veröffentlichungen seine Auffassungen über die Bearbeitung von Streitverfahren darzulegen. Dementsprechend hält Herr Dr. von Renesse auf zahlreichen Veranstaltungen Vorträge. Dies wird von mir begrüßt und unterstützt.

Ich fasse daher zusammen:

Die erfolgreiche Bearbeitung der zahlreichen und ausgesprochen schwierigen Ghettostreitverfahren ist eine positive Gesamtleistung der Sozialgerichtsbarkeit Nordrhein-Westfalen, insbesondere des Sozialgerichts Düsseldorf und des Landessozialgerichts.

Der mit seinen Einverständnis erfolgte Fachgebietswechsel von Herrn Dr. von Renesse im März 2010 steht in keinem Zusammenhang mit seiner Bearbeitung der ZRBG-Streitigkeiten. Der Richter ist weiterhin mit existenziell wichtigen und sozialpolitisch bedeutsamen Fragestellungen befasst.