forschungsprojekt Quelle: LSG NRW

Justizminister Thomas Kutschaty und der Präsident des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen Joachim Nieding haben am 19.12.2016 im Landessozialgericht Essen das Buch "Sozialgerichtsbarkeit und NS-Vergangenheit" vorgestellt. Dieses ist soeben als Band 22 der vom Justizministerium herausge­gebenen Reihe "Juristische Zeitge­schichte Nordrhein-Westfalen" erschienen. Es handelt sich dabei um den Abschlussbericht eines vom Justizministerium initiierten gleichnamigen Forschungsprojekts, das von der Forschungsstelle der Sozialversicherungsträger und der Forschungsstelle "Justiz und Nationalsozialismus" an der Justizakademie durchgeführt wurde. Am Beispiel der nordrhein-westfälischen Sozialgerichte wurden die personellen Kontinuitäten an Hand der Berufsbiografien der Richterschaft in den Nachkriegs­jahren beleuchtet. Zudem wurde untersucht, ob das NS-Gedankengut in der sozialrechtlichen Gesetzgebung und der Judikatur der Gerichte sowie in der Begutachtungspraxis fortgewirkt hat. Unter der Leitung des Historikers Dr. Marc von Miquel haben neben Historikern auch mehrere Richter der nordrhein-westfälischen Sozialgerichtsbarkeit an dem Projekt mitgewirkt. 

In bedrückender Weise müsse festgestellt werden, dass personelle Kontinuitäten auch in der Sozialgerichtsbarkeit unsers Landes vorhanden gewesen seien, so Herr Nieding in seiner Begrüßungsansprache. Auch Juristen, die im Dritten Reich als Richter die Fassade von Rechtsprechung aufrechterhalten hätten, seien in die nordrhein-westfälische Sozialgerichtsbarkeit übernommen worden. Die Untersuchung sei aber auch Ausdruck dessen, dass es sich bei der Erinnerung an die Vergangenheit um einen Teil des institutionellen Selbstverständnisses der Sozialgerichtsbarkeit handele und die Sensibilität der Richterinnen und Richter gegenüber Gefährdung der Freiheit und des sozialen Rechtsstaats gerade auch in diesem Selbstverständnis die notwendige Unterstützung finde. 

Minister Kutschaty führte aus, der Bericht zeige eindrucksvoll, wie viele Juristen der NS-Zeit ihre Karrieren ungehindert in der jungen Bundesrepublik hätten fortsetzen können. Die zu Beginn der fünfziger Jahre geschaffenen Fachgerichtsbarkeiten hätten Juristen des untergegangenen NS-Staates angezogen. Auch in höchstem Maße belastete Richter hätten hier eine neue juristische Aufgabe gefunden, was zwangsläufig nicht ohne Auswirkungen auf die Rechtsprechung der Sozialgerichte habe bleiben können. Die Problematik dieser weitreichenden personellen Kontinuitäten sei dadurch verschärft worden, dass in der Sozialgerichtsbarkeit die Opfer des Regimes vielfach wieder auch auf die ehemaligen Täter getroffen seien. 

Der Histori­ker Dr. Marc von Miquel stellte im Anschluss Einzelheiten des Forschungsprojekts dar. Er wies unter anderem darauf hin, dass sich nach Auswertung von etwa 169 Personalkaten 29 Richter mit belegbarer Nazi-Vergangenheit gefunden hätten. Diese Zahl sei weitaus höher, als dies angesichts des Forschungsstands zur NS-Belastung in der westdeutschen Justiz zu erwarten gewesen sei. Angesichts einer bislang nur unzureichenden wissenschaftlichen Aufarbeitung im Bereich der rechtsprechenden Gewalt wies er auch auf einen möglichen Modellcharakter des Projekts für weitere Untersuchungen in anderen Gerichtsbarkeiten oder auch in obersten Gerichten hin. 

Abschließend gab der Vorsitzende Richter am Landessozialgericht Dr. Martin Kühl einen Überblick über die Beiträge der beteiligten vier Richter. Diese haben sich neben der Beleuchtung richterlicher Einzelschicksale mit den Themen "NS-Täter und die Kriegsopferversorgung, "Kriegsopferversorgung von NS-Angehörigen" und möglichen Auswirkungen von während der NS-Diktatur herausgebildeten Rechtsauffassungen auf die frühe Rechtsprechung des Bundessozialgerichts im Bereich der Sperrfrist beschäftigt.